FIGURA Theaterfestival 2024 – das Theater kennt mehr als ein lachendes und ein weinendes Gesicht

16.07.2024 von Evelyn Hartmann Reportage

Figurentheater Annina Mosimann - Ein Stück mit Hefeteig

Zeitgenössisches Puppenspiel im Visier der VR-Brille, Hefeteig als wandelbarer Hauptdarsteller und Kartonschachteln, die zu leben beginnen – das sind nur einige Impressionen aus den sechs Tagen des 16. Internationalen Theaterfestivals FIGURA in Baden, welches sich ganz um das Spiel mit animierten Formen dreht. Zu sehen, hören und erleben waren 33 Inszenierungen aus dem Bereich des Bilder-, Objekt- und Figurentheaters, die in 190 Vorstellungen über die Bühne gingen. Mit dem Förderpreis «Grünschnabel» wurde in diesem Jahr Moritz Praxmarer ausgezeichnet, der bei einer Tasse Tee mit grossem Ideenreichtum «The Story of Larry» erzählt.

Objekte im Rampenlicht

Mit seinen vielfältigen Darstellungsformen und Ausdrucksweisen fasziniert das Figurentheater die Menschen schon seit tausenden von Jahren. Wie viele Gesichter dieses Genre haben kann, wird bei einem Besuch bei FIGURA in Baden schnell deutlich. Nebst dem klassischen Puppen-, Marionetten- oder Schattenspiel hat sich mit dem «Theater der Dinge» eine Kunstform herausgebildet, die sich besonders experimentierfreudig zeigt und sich ständig weiterentwickelt. Doch was versteht man eigentlich unter Objekt- und Figurentheater? «Eine wichtige Qualität ist sicher, dass Objekte und Material nicht nur als Deko oder unterstützendes Requisit dienen, sondern als Spielpartner auf der Bühne verstanden werden», erklärt Praxmarer, der sich mit seiner Theaterkunst bereits in jungen Jahren einen Namen gemacht hat. «Sie bringen einen eigenen Klang, Rhythmus und Ausdruck mit und stehen genauso wie die Schauspielenden immer wieder im Zentrum des Fokus. Zudem können Figuren auf der Bühne Dinge tun, die Menschen nie oder viel weniger gut können – zum Beispiel fliegen, zerrissen werden oder grotesk und trotzdem glaubwürdig sein. Das macht sie so spannend für die Theaterarbeit. Sie bieten eine extrem starke Projektionsfläche für unsere Fantasie. Leider hält sich die Meinung hartnäckig, dass diese Theaterform nur für Kinder sei, obwohl ja schon allein das Programm von FIGURA das absolute Gegenteil beweist.»

The Story of Larry @Moritz Praxmarer

Wieviel Abenteuer steckt in einer Schachtel Früchtetee?

Als Gewinner des Aargauer Förderpreises für junges Figurentheater «Grünschnabel» hat Praxmarer sein versiertes Können mit «The Story of Larry» eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Er lädt sein Publikum auf eine Tasse Tee an einen Küchentisch ein und erzählt absolut bewegend die wahre Geschichte von Larry Walters, dem wohl flugunfähigsten Piloten, der je abgehoben ist. Die Jury hatte keine leichte Aufgabe, denn alle fünf nominierten Produktionen überzeugten mit durchwegs hoher Qualität. In der Begründung für ihre Wahl heben Christian Bollow, Dramaturg (Dramaturg/in FH/UH) am Stuttgarter FITZ Theater animierter Formen, Gunhild Hamer, Leiterin Fachstelle Kulturvermittlung Aargau und Anna Sommer, Comiczeichnerin, Illustratorin und gelernte Grafikerin EFZ, hervor, dass Praxmarer nicht mehr braucht als «Teebeutel, ein wenig Verpackung und eine Tasse, um Krieg, Zerbrechlichkeit, Höhenflug, Wildnis und selbst Tod ausreichend zu bebildern.» Für den jungen Schauspieler bedeutet der mit 10'000 Franken dotierte Preis nebst der wohltuenden Anerkennung eine gewisse Entspannung. Denn wie so viele Künstlerinnen und Künstler lebt auch er ohne festes Einkommen.

The Story of Larry

Figurentheater – Wo Fantasie die Bühne betritt

Längst nicht alle, die an FIGURA ihre Stücke präsentieren, haben eine Ausbildung als Puppenspieler/in absolviert. Viele kommen vom Theater, sind Schauspieler/in FH oder Theaterpädagoge/-in FH und haben sich autodidaktisch, über Weiterbildungen oder Studiengänge wie beispielsweise den Studiengang Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin dem Figuren- und Objekttheater angenähert. Lukas Roth, der als vielseitiges Talent im «Zirkus Chnopf» mitwirkte und über dreissig Jahre Theatererfahrung verfügt, meint: «Bis jemand auf mich zugekommen ist und mir gesagt hat, dass das, was ich da mache, Objekttheater sei, war ich mir dessen gar nicht bewusst – im Theater sind die Grenzen ja fliessend.» Inzwischen schloss er den Master-Studiengang Teatro di Figura an der Accademia Dimitri ab, welcher neu kombiniert mit Bewegungstheater im Master of Arts in Theatre zusammengefasst wird – die Idee dazu kam ihm während der Pandemie. Auch Emily Magorrian fand durch die ungewollte Pause zu neuen Wegen. Die Theaterpädagogin, die schon immer gerne mit jungen Menschen gearbeitet hat, stellte gemeinsam mit Luzius Engel kurzerhand ein eigenes Objekttheater auf die Beine. Der Anklang war überraschend gross. «Das hat so Spass gemacht, dass gar nicht daran zu denken war, einfach wieder aufzuhören», lacht Magorrian.

Emily Magorrian und Lukas Rotha
Emily Magorrian und Lukas Roth

«Schweizer Fenster»

Im «Schweizer Fenster» stellen sechs Schweizer Gruppen dem nationalen und internationalen Fachpublikum – darunter insbesondere Veranstaltende auf der Suche nach Werken für ihren Spielplan –einen kurzen Ausschnitt aus einer aktuellen Produktion vor. Engel&Magorrian sind mit «Guet Nacht, Chuchi» vertreten. Das Stück spielt in einer Bäckerei, in die alles reingepackt wird, was Eltern von kleinen Kindern so bewegt, wenn sie gleichzeitig notorisch unausgeschlafen sind und trotzdem den Wunsch haben, wieder einmal auszugehen. In short: Der Teig will nicht ruhen, die Croissants gehen aus und der Geburtstagskuchen kann seinen Geburtstag kaum erwarten. Derweil verwendet die Companie Old Masters in «Home of my Spirit» Gegenstände grundsätzlich anders, als man es erwarten würde. Frau Trapp – Matteo Frau und Mina Trapp – wiederum entführen das Publikum mit «5 Lines» in die Welt des Mikrocinemas, während das Theater-Pack in «Shadows» einen Schattenforscher bei der Arbeit zeigt. Wortlos, aber ausdrucksstark, spricht die Tabletop Theatre Company in «Boxlife» über alles und nichts, erweckt Kartonschachteln zum Leben und legt noch so manches, was an Zauberei grenzt, auf den Tisch. Fast genauso wundersam vermag der Uhrmacher Viktor aus dem Stück «Zeitlupe» der Comedia Zap in den Uhren die Lebensgeschichten ihrer Besitzer zu erspähen. Er überwindet Zeit und Raum, um im Weltraum eine Astronautin zu beobachten, deren Menschenkopf auf einem Puppenkörper schwerelos dahintreibt. In einer anderen Episode werden kleine Figuren mittels eines Projektors auf eine Leinwand projiziert. Eine gläserne Zitronenpresse wird zum pittoresken Brunnen auf einer italienischen Piazza. Ein Eis am Stiel zur Rakete, die in den Weltraum fliegt.

Jeder Applaus ist der Lohn harter Arbeit

In der Schweiz gibt es verschiedene Studiengänge, um Bühnenschauspieler/in zu werden. Der Traum vieler Jugendlicher ist allerdings – das würden wohl alle Beteiligten des Figura Theaterfestivals unterschreiben – mit harter Arbeit verbunden. Denn unregelmässige Engagements mit oft vergleichsweise tiefer Gage machen es schwierig, als Bühnenschauspieler/in ein stabiles Einkommen zu erzielen, und erfordern oft eine Kombination aus Talent, Beharrlichkeit, Flexibilität und ein starkes Unterstützungssystem. Wer dies mitbringt, dem stehen die Türen weit offen: Denn das Universum des Figuren- und Objekttheaters ist nicht nur unendlich, sondern bietet auch Raum für alle möglichen Farben und Schattierungen des Lebens.

Schweizer Fenster:

  • Boxlife von Their Unparalleled Majesties' Grand Royal Tabletop Theatre Company: Eine skurrile Reise durch die Komplexität des Lebens, die Geheimnisse des Todes und den Zauber von Pappkartons.
  • Guet Nacht, Chuchi von Engel & Magorrian: Das nächtliche Leben in einer Bäckerei ist voller Abenteuer und Überraschungen.
  • Home of my Spirit – La Maison de mon Esprit von Old Masters: Die Spezialität von Kim, Köb und Mauro ist, Gegenstände anders zu verwenden, als man es erwartet.
  • Shadows vonDas Theater-Pack: Ein Panoptikum aus Licht und Schatten, aus Geräuschstrukturen und Klangfetzen.
  • Zeitlupe von Comedia Zap: Der Uhrmacher Victor kann in Uhren die Lebensgeschichten ihrer Besitzer erspähen.
  • 5 Lines von Frau Trapp: Die multidisziplinäre Dystopie führt uns in das Leben nach dem Klimakollaps.

Nominierungen für den «Grünschnabel 2024»:

  • Mycelium – Eine nahrhafte Gemeinschaft von Annina Mosimann & Fernando Munizaga: Auf der Suche nach dem mütterlichen Körper verschwimmen die Grenzen zwischen den Organismen. Ein Stück mit Hefeteig.
  • Om de hoek woont een struik – Um die Ecke wohnt ein Strauch von Feikes Huis / Plankton: Auf der kleinen ausgeklügelten Drehbühne erwacht mit Anbruch der Dämmerung eine filigrane Miniaturstadt zu Leben.
  • The Story of Larry von Moritz Praxmarer: Veranschaulicht durch eine Schachtel Früchtetee, gelingt es Larry im Amerika der 80er-Jahre auf einem Gartenstuhl zu fliegen.
  • Santa Pulcinella von Théâtre Gudule: Eine Reihe unglaublicher Unfälle und eine Verfolgungsjagd an der Grenze zwischen Lachen und Makabrem lassen die zeitlose Figur der neapolitanischen Volkstradition wieder aufleben.
  • Schlafstadium N von kapunkt (stock+walther+schaper): Das mutige und berührende Stück geht der Frage nach, ob wir, wenn wir sterben, dorthin gehen, wohin wir hingehören.

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