Genervt fragt man sich in der Schule: «Brauche ich das jemals?»
10.02.2020 von Raphael Tobler Reportage
Glücklicherweise sind wir uns grundsätzlich alle einig: Bildung ist wichtig und keine Bildung wird auf lange Frist für die Gesellschaft teuer. Darum wird mit dem Englisch (und idealerweise sogar Chinesisch) möglichst früh begonnen und nach dem ersten Abschluss folgt oft nochmals einer. Alles dreht sich um Bildung, häufig bis in die späten Dreissiger hinein. Zumindest bei der Wichtigkeit der Bildung haben wir also eine gemeinsame Ausgangslage. Bildung ist wichtig, aber wer sagt nun, was wichtig ist? Wessen Aufgabe ist es, heute zu entscheiden, was morgen gelehrt und gelernt wird, damit wir es übermorgen einsetzen können? Oder anders gesagt, braucht es alles, was die Jungen heute lernen, in 20 Jahren noch? Nichts schlimmer, als wenn in 20 Jahren die Jungen von heute sagen: «Das habe ich noch nie gebraucht!»
Bildungsinstitutionen als Visionäre?
Ist es die Aufgabe der Bildungsinstitution selber? Ausgestattet mit Fachpersonal in vielen Bildungsthemen. Seit Jahrzehnten wird Bildung konserviert, weiterentwickelt und weitergegeben. Man könnte davon ausgehen, dass hier fundierte Entscheide getroffen werden, was in 10 oder 20 Jahren wichtig und relevant sein wird. Nirgends ist mehr Fachwissen zum Thema Bildung vorhanden. Aber woher sollen diese Institutionen denn wissen, was die heutigen Schüler/innen in 20 Jahren für Kompetenzen brauchen? Liegt die Verantwortung wirklich bei den Schulen? Ist dem so, dann werden die Herausforderungen betreffend Lehrpläne, Konzepte und schliesslich für die Lehrpersonen immer grösser – zumal die Veränderungen immer schneller und öfters kommen. Dem Staat, der oftmals im Hintergrund steht, kommt hier ebenfalls eine herausfordernde Rolle zu – wie soll denn die beständigste Organisation so schnell auf die Veränderungen reagieren?
Nachfrage und Angebot
Ist möglicherweise der Kunde (also die «Sich-Bildenden») der Impulsgeber, weil er eine Nachfrage erzeugt? Und die Schule reagiert auf die Nachfrage und erstellt ein möglichst passendes Angebot? Aus der klassischen Wirtschaftslehre sicherlich das logischste Modell. Wenn genügend Nachfrage nach einem Lehrgang besteht, dann wird dieser angeboten. Bei einem Studium oder einem Weiterbildungskurs ist dies noch einfach und logisch zu begründen. Anders jedoch im Kindergarten (wobei hier kritisch zu beachten ist, ob der Kindergarten bereits zur Ausbildung gezählt werden soll) oder in der Grundschule. Kein Kind kommt in die Klasse und bittet den Lehrer, dass die Sozialkompetenzen in diesem Jahr stärker im Fokus stehen sollen oder es Zeit wird, das kleine Einmaleins zu lernen.
Unternehmen als eigentlicher Treiber der Kunden
Gehen wir vom Kunden in der Grundbildung oder der Weiterbildung aus. Ausser bei gewissen Menschen, die ihrer Leidenschaft folgen, ungeachtet zukünftiger Karrierechancen, ist bei der Wahl der entsprechenden Bildung oftmals der zukünftige Job, das Salär und die Karriere im Hinterkopf: «Ich muss etwas lernen, mit dem ich später eine gute Stelle finde.»
Vereinfacht gesagt, folgen wir damit dem Ruf der Unternehmen, die in den Stellenprofilen Kompetenzen und Know-how verlangen, das ich noch nicht habe und darum eine entsprechende Aus- oder Weiterbildung absolviere. Dieser Prozess scheint nicht wirklich systematisch, der Grundgedanke ist aber vermutlich korrekt. Ein Unternehmen ist ebenfalls der heutigen Nachfrage auf dem Markt ausgesetzt und versucht, diese möglichst gut zu befriedigen. Dazu braucht das Unternehmen heute die passenden Mitarbeitenden. In der Grundschule gibt es keine Unternehmen und der Markt ist noch viel zu weit weg. Vermutlich sind es hier die Eltern, welche das Beste für ihre Kinder wollen. Aber woher wollen die Eltern wissen, was das Richtige ist? Weder heute noch in 20 Jahren.
Braucht es mich als junges Individuum in der Entscheidungsfindung?
Einige Kompetenzen werden vermutlich nie oder nur sehr langsam abgelöst, andere dafür umso schneller. Kompetenzen, die bei meiner Oma oder meinem Vater noch unumgänglich waren, spielen heute bereits keine Rolle mehr.
Aus meiner Sicht sind es die Unternehmen (noch besser die Gemeinschaft der Unternehmen), die enger mit den Bildungsinstitutionen zusammenarbeiten müssen. Die Unternehmen müssen die Impulse geben, welche Kompetenzen in 10, 20 oder 30 Jahren verlangt werden. Denn im Gegensatz zu früher sind es heute auch immer mehr die Unternehmen, welche den (teils radikalen) Wandel in der Berufswelt herbeiführen. Und immer weniger die klassische Grundlagen-Forschung der Hochschulen. Die Hochschul-Forschung verändert die Welt ebenfalls, aber wesentlich langsamer als die Unternehmen. Aufgrund der langsameren Geschwindigkeit ist es auch einfacher zu reagieren. Oft höre ich heute von Jungen, was ich mir früher auch selbst dachte: «Wozu brauch ich das in meinem Leben?» Dieser Satz ist im Grundsatz absolut richtig. Als junger Mensch sollte ich mich durchaus fragen, wieso ich dies aktuell lerne, obwohl es zum heutigen Zeitpunkt keinen Sinn ergibt. 10 Jahre später sollte die Antwort darauf allerdings sein: «Jetzt weiss ich, warum ich dies vor einigen Jahren lernen musste.» Aktuell ist die Antwort viel zu oft: «Das habe ich noch nie gebraucht!»
Dieser Beitrag ist als Erstpublikation auf eduwo.ch erschienen.